Die Kunst der Metamorphose

Wilfried Dickhoff

Zu Roberto Cabots Malerei skrupelloser Positivität

Ob man „das Brausen großer Liebe beim Rückstrom des Lebens“ (Saint- John Perse) hört oder nicht - die Möglichkeit zu lieben, die Kraft zu sein und die Freiheit sind da. Die Hoffnung ist da. Sie ist das Rauschen des Unendlichen im Endlichen. Sie gleicht dem Meer, dem Klang der Wellen und des Windes, ihrem Säuseln, dem Glitzern des Wassers.

Corine Pelluchon

Wenn sich alles, wenn nicht auf Ideologie, Ressentiment, moralische Erregtheit und Meinungsmache, dann aufs schlicht Notwendige beschränkt und was dem entgeht, verworfen wird, zählt in der Kunst primär das Ungreifbare, das Unbestimmbare, das Unabschließbare - eine Verantwortung der Form, im Glanz einer Form von Nicht-Indifferenz.

Das ist selten, aber es gibt Überraschungen. Auf eine machte mich kürzlich Georg Dokoupil aufmerksam. Eine besonders schöne Überraschung: eine Malerei, die denkt! Eine Malerei, die das was ihre Titel benennen, auch in Form und Farbe ist, anstatt es in Illustrationen zu verfehlen oder als Ablenkung zu missbrauchen. Eine Malerei, die ihre Legitimation in sich, in ihrer Präsenz hat, anstatt sie sich in sekundären Bezügen zu besorgen. Schon ihren Leitbegriff führt sie in Öl auf Acryl auf Leinwand vor Augen: „Fructifications“, Fruchtbildungen. Davon wimmelt es in Roberto Cabots neuen Bildern. Merkwürdige neuartige Wesen in Entstehung begriffen, eigensinnige organische und pflanzliche Kreaturen, die sich auf keine Identität reduzieren lassen. Sie entwickeln sich, aus dem Gefängnis der Identität entlassen, eine post-identitäre Welt vorwegnehmend: ein Fest farbenfroher, fröhlicher nicht-identischer Zwischen-Wesen: „Le bal des heureuses differences, in a garden of diversity, dancing and falling in the future before it arrives.“

... Ein Bild zeigt eine selbstbewusste Kreatur, die sehr verwundert über das Aussehen des Betrachters zu sein scheint. Sie schaut ihn neugierig an, ihn auf seine eigene Differenz verweisend: „What are you?“ - Was bist du? Mit dieser Frage bringt das Bild den Betrachter in Verlegenheit. Denn wer könnte behaupten, es zu wissen? Wir wissen ja nicht einmal, wer da spricht, der „ich“ sagt. Offensichtlich werden wir gesprochen, wobei drei Strukturen im Dreieck tanzen: das Symbolische, das Imaginäre und das Reale (das Unmögliche, das Unsagbare, das nicht Symbolisierbare)1. Letzteres berührt das Bild. ...

Schon auf den ersten Blick geben die „Fructifications“ eine Kunst des Vor-Scheins2 zu sehen, getragen von einer nicht passiv erwartenden, sondern von einer aktiv gestaltenden Hoffnung, im Sinne Ernst Blochs, einer Hoffnung, die schon über sich selbst hinaus scheint, sich schon ein wenig hinter sich lässt: „Das Morgen im Heute lebt“.3 Genau das geben Roberto Cabots “Fructifications“ zu sehen: das Morgen der sich auch biologisch verändernden Existenz im Heute der Malerei. Es sind Gemälde voll von Entstehung, voll von Werden: Gemälde guter Hoffnung4, einer Hoffnung, die nichts mit Optimismus zu tun hat. Im Gegenteil, sie kommt aus der Verzweiflung, denn „Hoffnung bedeutet, das Unmögliche zu durchqueren“.5 Sie entsteht, wenn es keinen Anlass zur ihr gibt und entzündet sich an den Vorboten einer zumindest offenen Zukunft. Von der her denkt sie Gegenwart, im Vor-Schein der Kunst. In diesem Sinne kann Kunst Hoffnungskonstruktion6 sein, so wie in den „Fructifications“ zu sehen.

... Ein Bild heißt und ist „Fall in the Future“. Da stürzt etwas in die Zukunft, indem es sich überstürzt. Es wächst über sich hinaus und gerät außer sich. Außer sich landet es im Unvordenklichen, im Unvorhergesehenen und findet dafür eine Form: ein starkes Gemälde berührender Nicht-Indifferenz. ...

Einmal abgesehen von begrifflichen Zuspielungen und dem Wunsch zu wünschen, der ihnen Kraft verleiht und ihr Zuvorkommendes auf den Weg bringt: Wo kommen die „Fructifications“ her? Wozu laden sie ein? Wo ziehen sie hin?

Sie verdanken sich keiner Ironie, keinem Zynismus, keiner Entlarvungsmethode oder anderen Negationssackgassen. Auffallend ist der liebevolle Umgang Cabots mit seinen Kreaturen. Er belebt die positive Ausstrahlung seiner Gemälde. Negativ verstandene Kritik, als Nörgelei, Sich-beklagen, Anklagen, Selbst-Viktimisierung und am Ende als Verachtung und Ausgrenzung, hat hier nichts verloren. Die „Fructifications“ sind reine Bejahung, ihre Malerei ist skrupellos positiv. Affirmation ist hier Affirmation der Differenz unvorhergesehenen Werdens, „ein anzestrales, tierisches, pflanzliches und kosmisches Werden“7, von dem Félix Guattari in seinem letzten Buch, „Chaosmose“, spricht. Es liest sich stellenweise wie ein Programm der „Fructifications“:

Il s‘agirait de faire éclater de façon pluraliste le concept de substance, afin de promouvoir la catégorie de substance d‘Expression non seulement dans les domaines sémiologiques et sémiotiques mais aussi dans des domaines extralinguistiques, non humains, biologiques, technologiques, esthétiques, etc. Le problème de l‘agencement d‘énonciation ne serait plus alors spécifique d‘un registre sémiotique mais traverserait un ensemble de matières expressives hétérogènes.8

Um Kompositionen heterogener Ausdrucksformen, unter anderem nicht-menschlich biologischer Bereiche, geht es auch in den „Fructifications“.9 Neben Figurationen besagter Kreaturen und pflanzlicher Fruchtblasen, dominieren grüne, gelbe und dunkel- bis himmelblaue Farbflächen, Räume, Perspektiven bildend und Assoziationen möglicher Landschaften, Wiesen, Gewässer, Wälder, Berge, Himmel nahelegend. Aber diese Farbflächen sind das alles auch nicht. Sie sind nicht eindeutig figurativ. Sie schweben im Bildraum und bleiben als solche sichtbar, als ungegenständliche Malerei, Illusionen zuspielend, aber nicht erfüllend: eine Malerei unsentimental beseelter Abstraktion.

Ihre Anordnung erinnert an die ausgewogene Schräge in Hieronymus Boschs Anordnung der Vorder- und Hintergründe im „Garten der Lüste“, die eine besondere Anziehungskraft erzeugt. André Masson nennt sie „räumliche Hypnose“10. Die schräge Bodenlosigkeit der Farbflächen in den „Fructifications“ hat etwas von dieser Hypnose, für unsere Gegenwart neu erfunden. Sie bildet den Boden, auf dem die „Fructifications“ ihre überschäumende Positivität entfalten.

Die Neuentdeckung Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ (1503) spielt hier eine besondere Rolle: Dieses Triptychon, gemalt in Öl auf Eichenholz, in unfassbarer Alla- Prima-Technik11, entstanden im Niemandsland zwischen Renaissance und Spätgotik, getragen von einer eigensinnigen Weltsicht, mit mittelalterlichen Zügen, hin- und hergerissen zwischen Lust und Schuld, zwischen Paradies und Hölle, bösen und guten Dämonen, entsprach weder der kirchlichen Ikonographie der alten gotischen Zeit noch der humanistischen Ikonographie der neuen Zeit. Jenseits von beiden erfand Bosch eine Malerei der Fiktion, die der Kunst einen unvorhergesehenen Freiraum verschaffte. Die Fiktion als Ausdruck einer neuen Freiheit der Kunst, das war die Ambition. Dafür vertraute er sich einer den Wahnsinn heraus-fordernden Imagination an, die den „Garten der Lüste“ nicht -auf ein verlorenes Paradies bezog, sondern in einen imaginären Ort außerhalb der Zeit verlegte12, für den Thomas Morus zur gleichen Zeit den Begriff der Utopie erfand. An diesem utopischen Ort kann sich potenziell jede Zeit wiederfinden. Seine Utopie eröffnet die potenzielle Gegenwärtigkeit des Bildes - zu jeder Zeit..

An diesem utopischen Ort hat Roberto Cabot Boschs „Garten der Lüste“ besucht und für sich etwas entdeckt, das die „Fructifications“ befruchtet hat: eine neue poetische Freiheit heterogener Malerei. Mit diesen Bildern ist Cabot etwas gelungen, das Walter Benjamin den Tigersprung in die Vergangenheit nennt, der darin besteht, die Jetztzeit einer Vergangenheit zu ergreifen, ihr Unabgegoltenes, ihr Noch-nicht eines latent Kommenden, offen zu legen und wieder neu zu erfinden, ohne das Original zu imitieren oder zu zitieren. So geschehen in den eigenständigen Trans-Formationen der „Fructifications“.

Was bei Bosch ein „Garten der Lüste“ ist, in dem Phantasmen der Begierde neugierig gefeiert werden, ist bei Cabot ein „Garden of Diversity“, ein blühender Park frei entfalteter Unterschiedlichkeit, in Hinblick auf ein Anders-werden, ein Anders-sein ohne Schuld und Sühne: „Le bal des trans-formations“: ein Fest gewissenlos ethischer Nicht-Indifferenz, zu dem nicht nur menschliche Wesen eingeladen sind. Die „Fructifications“ sind Wesen, die die Vielfalt möglicher intelligenter Existenzformen vorzeichnen – jenseits menschlicher Intelligenz.13

Deren Gegenwärtigkeit findet eine begriffliche Entsprechung in Félix Guattaris ästhetischem Paradigma.14 Nie war es so aktuell wie heute: Kunst als Existenz Herd einer prozessualen Wiederbelebung einer Subjektivität ohne Subjekt. Kunst als Wiederverzauberung unserer digital verarmten Ausdrucksmodalitäten. Kunst als autopoietische Maschine und ontologisch-ethische Verantwortung. Kunst als Maschinismus von Schaffensprozessen im Entstehungszustand, die sich selbst vorgelagert sind.

Ich nenne es das Zuvorkommende15 einer Verantwortung, einer Fragen zuvorkommenden Antwort, die Formen von Nicht-Indifferenz annimmt. Diese können sehr verschieden sein, wie es so unterschiedliche Arbeiten wie die von Jean Fautrier, Marcel Broodthaers, Rosemarie Trockel, Brice Marden und Cindy Sherman zeigen. Und auch Roberto Cabots „Fructifications“ haben sie auf seine Weise in hohem Maße, indem sie das Werden neuen, anderen, unvorhergesehenen Lebens als glückliche Metamorphosen in beseelter Abstraktion vor Augen führen.

... Eines der zuletzt entstandenen Bilder heißt „Heureuses metamorphoses“. Hier gibt es besonders viel gute Laune, in Form von rosafarbenen Einschüssen und tierischen Pflanzen16 in Magenta: eine Atmosphäre euphorischer Entstehungszustände. Um die geht es hier. Und die „Fructifications“ sind auch genau das: eine Kunst der glücklichen Metamorphosen, in Form einer Malerei skrupelloser Positivität - in Öl auf Acryl auf Leinwand. ...

... Zum Ende ein Anfang: Das Bild heißt „L‘arrivée“, die Ankunft. Es zeigt „Fructifications“ im Anflug, in Vorfreude darüber, anzukommen, an ein Ziel zu gelangen, an einen Ort, der im Bild unsichtbar bleibt, ja bleiben muss, denn es gibt ihn noch nicht, noch nicht. Aber es gibt diese Malerei des Werdens, die ein Vorgefühl des Ankommens und Wiederneubeginns in einer veränderten Welt als möglich erscheinen lässt, im Vor-Schein eines faszinierenden Gemäldes, radikal und anfänglich. Radikal, das heißt die kreative Potenzialität an der Wurzel der sinnlichen Endlichkeit fassen und anfänglich, das heißt das Unendliche im Endlichen aufscheinen lassen, im Vor-Schein von etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“.17

1 Siehe: Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Seminar XI), Berlin 1996.

2 Ernst Blochs Konzept des „Vor-Scheins“ meint nicht Antizipation. Es ist eher der Schein des Erscheinens der Zukunft innerhalb einer Präsenz des Noch-nicht, eine Präsenz des Morgens innerhalb des Heute, in der Gegenwärtigkeit eines Kunstwerks.

3 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959/1973, Seite 1627.

4 Guter Hoffnung-sein ist im Deutschen ein Ausdruck für Schwanger-sein.

5 Corine Pelluchon, Die Durchquerung des Unmöglichen, München 2023, S.10.

6 Siehe Wilfried Dickhoff, Malerei als Hoffnungskonstruktion (1985), in: ders. Für eine Kunst des Unmöglichen, Köln 2001.

7 Félix Guattari, Chaosmose, Wien Berlin, S. 130. 8 Félix Guattari, Chaosmose, Paris 1992. S. 55.

9 Roberto und Félix verband eine Freundschaft, die in ihren Arbeiten wechselseitige Wirkung gezeitigt hat. Ich hatte das Vergnügen, beide zusammen zu erleben. Unvergesslich die Abende bei George Condo, der Ende der 80er Jahre im gleichen Haus wie Félix, in der Rue Condé, wohnte.

10 André Masson, gesammelte Schriften, Band 2, Berlin 2005, S. 212.

11 Bei der Alla-Prima-Technik werden die Motive ohne Unterzeichnung direkt auf die Leinwand gemalt.

12 Siehe Hans Belting, Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, München 2002.

13 Siehe James Bridle, Die unfassbare Vielfalt des Seins, Jenseits menschlicher Intelligenz, München 2023.

14 Félix Guattari, Chaosmose, Wien Berlin, S. 125ff.

15 Wilfried Dickhoff, Das Zuvorkommende. Eine Kunstkritik, Berlin 2009. Das Zuvorkommende ist die radikale, ursprüngliche, verantwortungsvolle, nicht-indifferente Qualität der Kunst, sich selbst voraus zu sein, eine Form, die sich als Antwort auf noch nicht gestellte Fragen erweist, eine Antwort, die auch eine unvorhergesehene Frage sein könnte: radikal , existentielle, reine Bejahung ohne Kompromiss, aber gleichzeitig, als dessen Form, nicht gleichgültig gegenüber dem anderen.

16 Roberto Cabot ist Anna Lowenhaupt Tsings Buch „Der Pilz am Ende der Welt, Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus“ (Berlin 2018) bekannt. Man könnte die „Fructifications“ auch aus der Sicht des Matsutake Pilzes sehen. Aber das wäre ein anderer Text.

17 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959/1973, p. 1628. Blochs Buch endet mit dem Wort „Heimat“. Hier bedeutet es eine utopische Situation, eine Ankunft in Erfüllung ursprünglicher Träume von Gerechtigkeit, Verständigung, Freiheit, entfremdeter Arbeit, Entwicklung aller Talente, die niemandem schaden, ... die der menschliche Wunsch nach dem Unmöglichen noch nicht aufgegeben hat. In diesem Sinne ist der Ursprung das Ziel, eine Situation, worin noch niemand war: „Heimat“.